Ein Naturereignis jenseits aller Vorstellungskraft
Das Juli-Hochwasser 2021 im Westen Deutschlands
„Die Lage vor Ort zu fotografieren wäre einfach zu unangemessen gewesen. Häuser und Straßen weg, Leute, die nicht wissen, wie es weiter geht, und andere, die stoisch nach Toten suchen. Einfach alles kaputt …“ (wörtliches Zitat einer Katastrophenhelferin in Kreuzberg/Ahr).
Deshalb zeigen wir statt eines themenbezogenen Teaserbildes eine vereinfachte schematische Darstellung der Großwetterlage. Die Medien haben in den Tagen nach der Überschwemmung viel bestürzendes Bildmaterial geliefert. Helfer und Helferinnen vor Ort berichten außerdem, dass die Zustände in den zerstörten Ortschaften entlang der Ahr, Erft, Swist und der anderen schwer betroffenen Mittelgebirgsflüsse um Größenordnungen schlimmer sind, als es Fotos überhaupt auszudrücken vermögen. Daher ist es schwer, sich angesichts einer solch apokalyptischen Katastrophe, auf die wir hier in unserem vermeintlich sicheren westlichen Deutschland so gut wie unvorbereitet waren, auf die wissenschaftlichen Aspekte des Geschehens zu konzentrieren.
Wir möchten dennoch versuchen, diese außergewöhnliche Naturkatastrophe in einen statistischen Kontext einzuordnen und zu ergründen, was ein solch reales Ereignis für die theoretische Analyse von Naturrisiken bedeutet. Vielleicht können wir auf diese Weise einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass zukünftige Katastrophen weniger Opfer fordern und geringere materielle Verluste verursachen. Eines steht jedoch jetzt schon fest: Verhindern lassen sie sich nicht.
Die Ursache – die Großwetterlage
Vom 12. bis 15. Juli diesen Jahres bestimmte ein ausgeprägter Tiefdruckkomplex über Mitteleuropa das Wettergeschehen. Das bodennahe Tiefdruckgebiet namens „Bernd“ hatte sich im Zusammenhang mit einem Höhentief entwickelt, das sich langsam über den Atlantik kommend von Frankreich her näherte. Durch eine stabile, ausgeprägte Hochdruckzelle über dem westlichen Russland, die dort schon über einen längeren Zeitraum hinweg zu überdurchschnittlich hohen Temperaturen bis in arktische Breiten geführt hatte, konnte sich das Tiefdrucksystem zunächst nicht weiter nach Osten fortbewegen.
So rotierte das Bodentief „Bernd“ für mehrere Tage mit Zentrum über Deutschland, wodurch extrem feuchte Luftmassen aus dem Mittelmeerraum und Südosteuropa über Ost- und Norddeutschland hinweg in die betroffenen Gebiete strömen konnten (siehe Abb. 1). Die Luftmassen hatten sich sowohl auf ihrem Weg im Mittelmeerraum mit viel Wasserdampf aufgeladen als auch über der Ostsee, die in diesem Jahr überdurchschnittlich warme Temperaturen aufweist.
In der Nähe der westlichen Mittelgebirge (z.B. Eifel, Sauerland) kam es dann zu speziellen regionalen meteorologischen Effekten (z.B. erzwungene Hebung und Staueffekte), wodurch die großflächigen, langanhaltenden Starkniederschläge ausgelöst wurden.
Ab dem 13. Juli traten im Zusammenhang mit Tief “Bernd” zunächst gebietsweise über Teilen Nordbayerns und Sachsens Gewitter mit Starkregen auf. Im Laufe des Tages und in der Nacht zum 14. Juli wurden dann immense Regenmengen über dem nördlichen Sauerland abgeladen. Besonders betroffen war die Region um die Stadt Hagen. Dort wurden in der Nacht fast 100 l/m² Niederschlag innerhalb von 3 Stunden gemessen.
Am 14. Juli hatten die Regenwolken, die sich gegen den Uhrzeigersinn um das Zentrum des Tiefdrucksystems drehten, welches zu dieser Zeit etwa über Süddeutschland lag, die Mittelgebirgsregion der Eifel erreicht. Hier, über den Einzugsgebieten der Flüsse Ahr, Erft, Swist, Nette, Nitzbach, Rur, Inde, Merzbach, Vichtbach, Kyll und Wurm entluden sich Niederschlagsmengen, wie sie in dieser Region seit Beginn der Wetteraufzeichnungen noch nie beobachtet wurden.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Böden auf Grund des feuchten Wetters in den Wochen vor dem Extremereignis bereits stark durchnässt. Die Witterung in vielen Regionen Deutschlands im diesjährigen Frühjahr und Frühsommer steht somit im Gegensatz zu den letzten Jahren, die eher durch überdurchschnittliche Trockenheit gekennzeichnet waren. Zu feuchte, wie auch zu trockene Böden können Niederschlag nur schwer aufnehmen und dadurch kommt es in Regionen mit Gefälle zu einem schnellen Abfluss des Regenwassers an der Oberfläche. Zahllose Entwässerungskanäle, Rinnen und Bäche sammelten es ein und führten es – nahezu zeitgleich – den genannten Flüssen zu, die dadurch innerhalb von Stunden über die Ufer traten und alles mit sich rissen, was sich ihnen in den Weg stellte. In einem großen Flusssystem wie dem Rhein kam es hingegen nur zu einem mäßigen Hochwasser, bei dem lediglich einige Uferpromenaden und Parkplätze überflutet wurden. Die Hochwassermarke, bei der die Schifffahrt eingestellt werden muss, wurde nur kurzfristig überschritten.
Zusammenfassung: Ursache – die Großwetterlage
Enorme Niederschlagsmengen durch spezielle meteorologische Bedingungen, wie z.B.
- beständige Großwetterlage
- hoher Feuchtegehalt in der Atmosphäre
Flutereignis resultierend aus verstärktem Oberflächenabfluss durch
- stark gegliedertes Gelände
- gesättigte Böden durch anhaltende feuchte Witterung vor dem Ereignis
Die Niederschlagsmengen
Was jedoch wären „normale“ Niederschlagsmengen gewesen? Wie ist „normal“ eigentlich in diesem Zusammenhang zu definieren? Ob eine bestimmte Niederschlagsmenge zu den Erfahrungen passt, die über Jahrzehnte in einer Region gesammelt wurden, lässt sich mithilfe einer statistischen Häufigkeitsanalyse ermitteln. Am Beispiel der Wetterstation Dahlem in der Nähe der Ahrquelle in Blankenheim lässt sich die Methodik einer solchen Analyse verdeutlichen:
Die Station Dahlem wird seit 1931 betrieben und umfasst somit einen Beobachtungszeitraum von knapp über 90 Jahren. Für fast jeden Tag dieser Zeitspanne sind die täglichen Niederschlagssummen protokolliert. Diese Werte werden in einem ersten Auswertungsschritt der Größe nach absteigend sortiert. In Tabelle 1 sind die höchsten 9 Werte davon aufgelistet.
Der maximale Niederschlagswert dieser Liste beträgt 129,2 mm (entspricht 129 l/m2) und wurde im Zusammenhang mit dem diesjährigen Extremereignis im Juli aufgezeichnet. Mit dem hier gewählten extremwertstatistischen Verfahren würde diesem Wert eine Wiederkehrperiode (WKP) von 90 Jahren zugeschrieben werden, da er einmal in 90 Jahren erreicht wurde. Mit demselben Ansatz würde zum Beispiel dem dritten Niederschlagswert in der Liste (64,5 mm am 6.10.1988) eine WKP von 30 Jahren zugeordnet werden, da dieser Wert im Beobachtungszeitraum drei Mal erreicht bzw. überschritten wurde. Beim neunten Wert (56,5 mm am 29.5.1956) sollte es sich demnach um ein 10-jährliches Ereignis handeln. Auf diese Weise lässt sich für jeden Niederschlags-Tageswert die statistische Wiederkehrperiode (WKP in Jahren) errechnen.
Werden den so errechneten WKPs in einem Diagramm mit logarithmisch geteilter Abszisse (X-Achse) die entsprechenden Niederschlagswerte gegenübergestellt, gruppieren sich diese normalerweise um eine logarithmische Ausgleichsgerade (siehe Abb. 2). Gängige Verfahren, zum Beispiel zur Klärung von Bemessungsfragen, extrapolieren diese Ausgleichgerade, um die Stärke und Jährlichkeit von seltenen Starkniederschlagsereignissen abzuschätzen. Mit diesem Verfahren und ohne Berücksichtigung des diesjährigen Juli-Ereignisses sollte für die Station Dahlem das 100-jährliche Niederschlagsereignis eigentlich nur bei 80 mm und ein „Jahrtausendregen“ knapp über 100 mm liegen.
Das Niederschlagsereignis am 14. Juli 2021 übertraf mit 129,2 mm aber nicht nur den bisherigen Rekordwert um einen Faktor von 1,82, sondern liegt auch weit über der Ausgleichsgeraden, die im Zusammenhang mit den bisherigen Beobachtungen errechnet wurde (siehe Abb. 2). Würde davon ausgegangen werden, dass sich der aus konkreten Messwerten vergangener Jahrzehnte errechnete Zusammenhang zwischen Wiederkehrperiode und Tagesniederschlag auch in den Bereich höherer Wiederkehrperioden extrapolieren lässt, dann wären die Niederschläge in Dahlem vom 14. Juli 2021 ein – etwa – 10.000-jährliches Ereignis. Dafür müsste der betreffende Tageswert nach rechts bis auf die Ausgleichsgerade verschoben werden (roter Pfeil in Abb. 2). Dies allerdings ist ziemlich unwahrscheinlich, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein 10.000-jährliches Ereignis ausgerechnet in die 90-jährige Beobachtungszeit der Messstelle Dahlem fällt, beträgt weniger als 1 Prozent. Aber immerhin, undenkbar ist es nicht.
Eine solche Extrapolation muss in diesem Fall jedoch nicht zum Ziel führen. Eine mögliche Ursache ist, dass die Ausgleichgerade nur die in der uns zur Verfügung stehenden Beobachtungszeit „üblichen“ Wetterverhältnisse widerspiegelt. In Mitteleuropa wären darunter so genannte West-Wetterlagen zu verstehen, bei denen atlantische Frontensysteme die Niederschlagsgebiete aus westlicher oder südwestlicher Richtung heranführen. Die „statistischen Ausreißer“ wären dann als Folge völlig anderer – extremer – Wetterlagen zu sehen. Zumindest am 14. Juli 2021 traf genau dies zu: Die Regenwolken erreichten Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz nicht aus Westen, sondern von Nordosten her, weil sie in einem weiten Bogen um den Ostrand des nahezu ortsfesten Tiefdruckwirbels herumgeführt worden waren. Ihr Weg führte vom Mittelmeer über Osteuropa, die Ostsee und Norddeutschland bis nach Westdeutschland (Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM)). Die Luft konnte sich auf dieser langen Strecke bis fast zum Rand ihres Fassungsvermögens mit Wasserdampf aufladen, der dann über Westdeutschland als Starkregen niederging.
Dass solche Extremereignisse, die nicht in die langjährige Statistik passen, durchaus keine Seltenheit sind, belegen z.B. die Wetterstationen Köln-Stammheim und Bad Münstereifel (siehe Abb. 3). Für Bad Münstereifel wurde der Tageswert vom 14.7.2021 aus Umgebungsdaten auf ca. 150 mm geschätzt, da die Station seit 2020 nicht mehr betrieben wird. Deutlich ist in Abb. 3 an den Daten der Station Bad Münstereifel zu erkennen, dass es in den 72 Jahren seit 1949 mindestens 3 Niederschlagsereignisse gegeben hat, die sich signifikant von der langjährigen Statistik abheben. Damit würde sich ein derartig auffälliger Starkregen hier – grob gerechnet – etwa alle 24 Jahre wiederholen. Ein Extremereignis wie das vom Juli 2021 wäre etwa alle 90 bis 100 Jahre zu erwarten. Ähnlich verhält es sich an der Station Köln-Stammheim (siehe Abb. 3, unten), wo sich 5 “auffällige” Starkregenereignisse (mit Tagessummen von mehr als 60 mm) auf die 60 Jahre seit 1961 verteilen. Extremwerte wären hier demnach etwa alle 12 Jahre zu erwarten, wobei sich die Wiederkehrperiode des diesjährigen Extremereignisses an dieser Station ebenfalls in der Größenordnung von 100 Jahren bewegt.
An den Stationen Rodder, Blankenheim, Kall-Sistig und Lommersum tritt der Niederschlagswert vom 14.7.2021 entweder als singulärer Extremwert in Erscheinung oder er wird nur von ein bis zwei untergeordneten Werten begleitet (siehe Tab. 2). Eine, wenn auch nur grobe, statistische Einstufung ist an diesen Stationen deshalb kaum möglich. Da es sich aber auch hier mindestens um ein Jahrhundertereignis gehandelt haben dürfte, sind diese Stationen in Abbildung 4 mit „WKP >> 100“ gekennzeichnet. An den außerhalb oder am Rand des Starkregengebietes gelegenen Stationen Simmerath, Kaltenborn und Pulheim fügt sich das Ereignis vom 14.7.2021 zwar in die langjährige Statistik ein, verbleibt aber auch hier in der Spitzengruppe der stärksten Tagesniederschläge (siehe auch Tab. 2).
Auffällig ist auch in Tabelle 2, dass sich die vor 2021 registrierten Spitzenniederschläge an fast allen untersuchten Wetterstationen auf unterschiedliche Jahre verteilen. Es handelte sich also um lokal begrenzte Regenfälle. Lediglich die etwa 20 km voneinander entfernten Stationen Bad Münstereifel und Kall-Sistig wurden 2007 vom selben Starkregengebiet erfasst. Aber auch dies war anders im Juli 2021: An fast allen Stationen auf der 75 km langen Strecke zwischen Köln-Stammheim im Nordosten und Dahlem im Südwesten wurden die bisherigen Rekordwerte gebrochen bzw. meist sogar deutlich übertroffen. Selbst an den abseits des Hauptniederschlagsgebiets liegenden Stationen Simmerath, Kaltenborn und Pulheim (siehe Abb. 4) finden sich die Niederschläge vom 14.7.2021 noch in der Spitzengruppe auf den Plätzen 2 und 3.
Damit muss dieses Ereignis sowohl hinsichtlich seiner Intensität als auch seiner flächigen Ausdehnung als außergewöhnlich eingestuft werden. Seine überregionale Eintrittswahrscheinlichkeit kann allerdings anhand der einzelnen Stationsauswertungen nicht exakt bestimmt werden. Hierzu ist eine Betrachtung seiner Auswirkungen, den Wasserständen und Abflüssen der betreffenden Oberflächengewässer, erforderlich.
Der Schwerpunkt unserer Auswertung bezieht sich hier auf eine Region von der Eifel bis Köln, die grob die Flüsse Ahr und Erft und deren Einzugsgebiete umfasst. Das tatsächliche Niederschlagsgebiet am 14. Juli 2021 hatte jedoch ein wesentlich größeres Ausmaß und umfasst eine Reihe anderer Regionen in Deutschland (z.B. nördliches Sauerland) und angrenzenden Ländern, wo ähnliche Niederschlagsrekorde beobachtet wurden.
Zusammenfassung: Niederschlagsmengen
- Beobachtete Niederschlagsmengen am 14. Juli 2021 an fast allen untersuchten Stationen lagen weit über den bisher beobachteten Rekordwerten seit Aufzeichnungsbeginn (vor ca. 100 Jahren).
- Flächenmäßige Ausdehnung des Starkniederschlagsgebietes war außergewöhnlich groß.
- Bestimmung von Wiederkehrperioden schwierig auf Grund der Datenlage
Die Flut an der Ahr
Stellvertretend für die vielen Flüsse, die in der Eifel entspringen und die bei diesem Hochwasserereignis entsetzliche Verwüstungen angerichtet haben, soll an dieser Stelle genauer auf die Abflussbedingungen der Ahr eingegangen werden.
Seit 1945 zeichnet der Messpegel an der Ahr in der Ortschaft Altenahr zuverlässig den Wasserstand des Flusses auf. Auf Grund der extrem hohen Pegelstände wurde am 14.7.2021 sogar die Aufzeichnung zumindest für etwa 10 Tage unterbrochen, da die Messtelle nur für einen maximalen Pegelstand von 5,75 m eingerichtet war. In einer Auswertung vom CEDIM (Hochwasser Mitteleuropa, Juli 2021 – Bericht Nr. 1) wird geschätzt, dass die Ahr an diesem Tag hier einen Pegelstand von bis zu 7 m erreicht hat. Aus den Hauptwerten zum Pegel Altenahr (Landesamt für Umwelt, Rheinland-Pfalz) konnte hieraus ein mutmaßlicher Abfluss von 520 m3/s extrapoliert werden. Von Werten in ähnlicher Größenordnung (400 bis 700 m3/s) wird auch im CEDIM Bericht ausgegangen. Welcher Abfluss allerdings genau mit diesem exorbitanten Pegelstand verbunden war, dürfte kaum exakt zu ermitteln sein.
Das diesjährige Extremereignis war nicht das erste verheerende Hochwasser an der Ahr. Wissenschaftler der Universität Bonn rekonstruierten für einige extreme Hochwasserereignisse des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts die Pegelstände der Ahr und schätzen daraus die entsprechenden Abflussmengen für den Ort Altenahr (ROGGENKAMP & HERGET 2015). Tabelle 3 zeigt die höchsten Abflussmengen der letzten 200 Jahre, die als Grundlage für statistische Auswertungen in diesem Bericht verwendet werden. Anhand dieser Daten zeigt sich zum Beispiel, dass es im Jahr 1804 ein katastrophales Hochwasserereignis gegeben haben muss – etwa mit der doppelten Abflussmenge im Vergleich zur Flut im Juli 2021 (in CEDIM, 2021). Unvorstellbar, welche Schäden ein solches Hochwasser heutzutage angerichtet hätte.
Der Zeitraum, in dem die Hochwasserereignisse oberhalb von 200 m3/s stattgefunden haben, beträgt mindestens 218 Jahre, wenn das Jahr 1804 mit dem ältesten rekonstruierten Hochwasser den Beginn der Beobachtungsperiode kennzeichnet. Allerdings gibt es auch Hinweise auf eine vergleichbare Hochwasserkatastrophe im Jahr 1601 (CEDIM – Hochwasser Mitteleuropa, Juli 2021 – Bericht Nr. 1), deren Abfluss jedoch nicht mehr rekonstruierbar ist. Wird dieses Ereignis mit in die Überlegungen einbezogen, vergrößert sich der zur Verfügung stehende Beobachtungszeitraum auf 420 Jahre. Größenordnungsmäßig kann vor diesem Hintergrund davon ausgegangen werden, dass sich die in Tabelle 3 aufgeführten fünf auffälligen Hochwasserkatastrophen auf einen Zeitraum von 200 bis maximal 400 Jahre verteilen.
Unter Berücksichtigung eines mittleren Beobachtungszeitraumes von 300 Jahren ergeben sich im Einzelnen für die Ereignisse von 1888 und 1918 hieraus statistische Wiederkehrperioden von 60 bis 125 Jahren, die sich noch im Bereich der amtlichen Wiederkehrperioden bewegen. Bei der extremen Katastrophe von 1804 dürfte es sich um ein 300- bis 500-jährliches Ereignis gehandelt haben, wobei hierfür allerdings ein Unsicherheitsbereich anzusetzen ist, der bis zu einer Wiederkehrperiode von 1.000 Jahren reicht. Nach unserer Auswertung lässt sich somit das Hochwasser vom Juli 2021, so wie das Hochwasser von 1910, als 100- bis 250-jährliches Ereignis einordnen (siehe Abb.5).
Kombiniert man diese Ergebnisse mit den vom Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz für den Pegel Altenahr herausgegebenen Jährlichkeiten, ergibt sich das in Abbildung 5 gezeigte Diagramm. Durch die verzerrten Kreise und die grau schraffierte Fläche sollen die Unsicherheiten bei der Berechnungen zum Ausdruck gebracht werden.
Zusammenfassung: Flut an der Ahr
- Statistische Einordnung anhand von Pegel-Daten in Altenahr zeigt, dass es sich um ein außergewöhnlich starkes Extremereignis handelt.
- Historische Aufzeichnungen zeigen jedoch weitere Katastrophen in den Jahren 1910 und 1804 von mindestens dem Ausmaß des Juli-Ereignisses
- Mit einem Ereignis von mindestens dem Ausmaß des Juli Ereignisses muss alle 100 – 250 Jahre gerechnet werden
Der Einfluss des Klimawandels
Ob ein einzelnes Ereignis, wie die hier diskutierte Hochwasserkatastrophe, konkret durch den Klimawandel hervorgerufen wurde, ist kaum zu belegen. Jedoch gibt es diverse Argumente und Indizien, die deutlich auf einen Einfluss des Klimawandels hinweisen.
Durch das vermehrte Abtauen des Polareises wird, vor allem in den Sommermonaten, weniger Sonnenenergie in den Weltraum zurückgespiegelt, wodurch sich die polaren Breiten stärker erwärmen als der Rest der Erdatmosphäre. Somit erlahmt der Luftaustausch zwischen Pol und Äquator, der durch den Temperaturunterschied zwischen Arktis und Tropen angetrieben wird. Klimawissenschaftler gehen davon aus, dass sich dadurch Hochdruckzellen und Tiefdruckwirbel langsamer voranbewegen, bzw. sogar über längere Zeiträume stabil an Ort und Stelle verbleiben. Auch die andauernden Trockenperioden in Mitteleuropa der Jahre 2018, 2019 und 2020 können eine Folge dieser Veränderungen sein. Der ortsfeste Tiefdruckwirbel, der die hier besprochenen Niederschläge zur Folge hatte, ist wahrscheinlich auch auf diesen Effekt zurückzuführen.
Etwa seit dem Jahr 2000 wird die Erderhitzung nicht nur messbar, sondern auch spürbar. In Deutschland versammeln sich die wärmsten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1881 alle im Zeitraum zwischen 1995 und 2020. Ein physikalisches Gesetz (Clausius-Clapeyron-Gleichung) besagt, dass die Luft umso mehr Wasserdampf aufnehmen kann, je wärmer sie ist. Folglich werden die Niederschläge heftiger, wenn die Luft diese Feuchtigkeit wieder abgibt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass z.B. an den Wetterstationen Bad Münstereifel und Köln-Stammheim die stärksten Tagesniederschläge in den Zeitraum nach dem Jahr 2000 fallen (2007, 2017 und 2021).
Bereits in früheren Veröffentlichungen der KA wurde auf der Grundlage von Klimamodellierungen vorgerechnet, dass sich die Intensität von Starkregenereignissen bis zur Mitte dieses Jahrhunderts, je nach Region, durchschnittlich um 10 bis 20 Prozent erhöhen kann. Dass dies punktuell auch mit einer Verdopplung der bislang bekannten maximalen Tagesniederschläge einhergehen kann, wurde im Juli 2021 deutlich.
Ebenso beunruhigend ist jedoch, dass die mathematische Relation zwischen Wiederkehrperioden und den entsprechenden Niederschlagsmengen bewirkt, dass sich die Wiederkehrperioden dadurch halbieren können: Aus 200-jährlichen Ereignissen werden 100-jährliche und aus 100-jährlichen werden 50-jährliche Ereignisse. Das bedeutet nach heutigem Kenntnisstand nichts anderes, als dass sich die Risiken für Starkniederschläge und den daraus resultierenden Sturzfluten infolge des Klimawandels ebenfalls verdoppeln könnten, sogar wenn die Regenmengen „nur“ um 10 bis 20 Prozent ansteigen. Die o.g. Publikationen sind auf der Webseite der KA abrufbar (K.A.R.L.® Insights: Starkregen, Ausgabe 01/2018, K.A.R.L.® Release: Starkregen – Hagelmodell – Klimadaten, Ausgabe 01/2019).
Ausblick
Das extreme Niederschlagsereignis im Juli 2021 im Westen Deutschlands und angrenzenden Regionen hat zu einer verheerenden Katastrophe mit hohen Todeszahlen und enormen Schäden an Gebäuden und Infrastruktur geführt.
Extremereignisse nicht vernachlässigen
Die statistische Einstufung dieses Extremereignisses hat gezeigt, dass sowohl die extremen Niederschläge als auch das daraus resultierende Hochwasser im Juli 2021 Rekordereignisse sind, die in ihrer Intensität und räumlichen Ausdehnung weit über die Beobachtungen der letzten hundert Jahre hinausgehen. Aufgrund dieser starken Abweichung von der „normalen“ Statistik sind konkrete Aussagen über die Eintrittswahrscheinlichkeiten solcher Ereignisse mit den üblichen statistischen Methoden nur schwer zu treffen.
Die Ergebnisse weisen somit auch auf die Schwierigkeiten gängiger Verfahren zur Abschätzung hydrologischer Extremereignisse mit hohen Wiederkehrperioden (> 100 Jahre) hin. Bei diesen Verfahren wird nämlich häufig davon ausgegangen, dass die beobachtete statistische Beziehung zwischen Intensität und Wiederkehrperiode (ermittelt aus Beobachtungen der letzten 50 bis 100 Jahre) durch Verlängerung der Regressionsgeraden auf den Bereich sehr hoher Wiederkehrperioden extrapoliert werden kann. Der vorliegende Bericht zeigt jedoch, dass diese Annahme in Frage gestellt werden muss.
Sicher ist jedenfalls, dass grundsätzlich alle beobachteten Extremereignisse bei Planungs- und Versicherungsfragen berücksichtigt werden sollten, auch wenn sie stark von der „normalen“ Statistik abweichen. Denn, wie diese Kurzstudie zeigt, treten außergewöhnliche Extremniederschlags- und Hochwasserereignisse weitaus häufiger auf, als aufgrund der bisherigen Statistiken zu erwarten wäre. Bei der Bewertung oder Vorhersage von Extremereignissen sollten daher neben den inzwischen automatisch erfassten Beobachtungsdaten der letzten Jahrzehnte möglichst auch historische Daten herangezogen werden.
Fokus auf die Gefahren an kleineren Nebenflüssen
Bislang stand die Hochwassergefahr an den großen Flüssen wie Rhein, Donau oder Elbe im Zentrum des Interesses. Die Gefährlichkeit ihrer kleineren Nebenflüsse und deren Bachzuläufe wurde hingegen unterschätzt. Das jedoch sollte sich nach der Katastrophe an Ahr und Erft wohl einschneidend verändern. Im Vordergrund steht hierbei, dass Sturzfluten an kleinen Flüssen bereits Minuten, bestenfalls Stunden nach dem auslösenden Niederschlagsereignis eintreten, während an den großen Strömen Vorwarnzeiten von Tagen oder sogar Wochen möglich sind. Die Vorwarnzeiten an Flüssen wie Ahr, Erft oder Swist sind dagegen extrem kurz.
Signale rechtzeitig deuten und darauf reagieren
Umso wichtiger ist es darum, in Zukunft die Signale, die einer solchen Katastrophe vorausgehen, richtig zu deuten und entsprechend darauf zu reagieren. Bereits am Tag vor der Katastrophe kündigten die Wettervorhersagen für die betroffenen Regionen Regenmengen von bis zu 150 l/m2 an, was dann am 14.7.2021 größenordnungsmäßig auch tatsächlich eintrat. Entscheidungsträger vor Ort müssen in die Lage versetzt werden, Voraussagen der Wetterdienste korrekt einordnen zu können, d.h. sie müssen die Vergleichswerte kennen, ab denen es in ihrem Verantwortungsbereich gefährlich wird und entsprechende Schritte – eindringliche Warnung der Bevölkerung, Evakuierungen etc. – eingeleitet werden müssen. Dann hätte eine Vorwarnzeit von mindestens 24 Stunden zur Verfügung gestanden.
Einfache Methoden zur Vorwarnung
Es gibt auch einfachere Methoden der Vorwarnung, die schon nach dem Elbehochwasser 2002 in die Tat umgesetzt wurden: Wenn der Pegelstand des Flusses – hier die Müglitz bei der Ortschaft Dohna nahe Dresden – einen kritischen Wert erreicht, ab dem nach aller Erfahrung ein verheerendes Hochwasser unmittelbar bevorstehen könnte, müssen Sofortmaßnahmen ergriffen werden, z.B. das Schließen von Fluttoren, Absperren von Entwässerungskanälen, Abschalten der Stromversorgung und sofortige Evakuierung der Bevölkerung. An der Müglitz zeigt eine für jedermann einsehbare Markierung an einer geeigneten Stelle an, wann dies der Fall ist (siehe Abb. 6, rote Linie unterhalb der Brücke).
Für Altenahr z.B. wäre dies der Pegelstand der Ahr, der gemäß Abbildung 5 einem Abfluss von rund 240 m3/s entspricht, denn oberhalb davon ist in der Vergangenheit in 3 von 5 Fällen ein katastrophales Hochwasser eingetreten. Das entspricht immerhin einer Eintrittswahrschenlichkeit von 60 Prozent. Wer würde noch in ein Auto einsteigen, wenn die Wahrscheinlichkeit zu verunfallen ebenso hoch wäre? Zwar ist die Vorwarnzeit bei dieser Methode geringer als wenn man sich auf meteorologische Vorhersagen bezieht, aber sie reicht immerhin aus, um Menschenleben zu retten, die wertvollsten Schutzgüter in Sicherheit zu bringen sowie Fahrzeuge aus den Garagen zu holen und an einen höher gelegenen Ort zu verbringen.
Sinnvolle Maßnahmen treffen
Eigentlich sollte es fast überflüssig sein, muss aber vor dem Hintergrund der Juli-Flut 2021 nochmals in Erinnerung gerufen werden: Wenn man in Sichtweite eines Fließgewässers – und sei es noch so klein – siedelt und die Höhendifferenz zu diesem Gewässer nicht mindestens 10 Meter beträgt, gehören wertvolle Güter wie EDV-Anlagen, Archive, kostspielige technische oder medizinische Geräte etc. nicht in Kellerräume. Auch Heizungs- und Klimaanlagen, Verteilerschränke oder Vorratsräume sollen, wenn irgend möglich, oberirdisch untergebracht werden, also mindestens im Erdgeschoss. Klar ist aber auch: Im Fall eines Ereignisses wie die Fluten vom 14.7.2021 hätten solche Sicherheitsvorkehrungen nicht überall geholfen, aber sie hätten Menschen daran gehindert, bei herannahender Flut Kellerräume aufzusuchen und sich damit in Lebensgefahr zu begeben.
Klimawandel beeinflusst extreme Wetterereignisse
Wer ist schon auf ein Hochwasser vorbereitet, das statistisch seltener als 1 Mal pro Jahrhundert eintritt? Die Antwort: Kaum jemand. Doch genau dies muss sich ändern, denn der Klimawandel könnte dazu führen, das die Wiederkehrperioden von Hochwasserereignissen, die auf der Grundlage von Messwerten vergangener Jahrzehnte errechnet wurden, inzwischen schon überholt sind. Wir haben zwar ein Extremereignis erlebt, aber so selten, wie wir es gerne glauben möchten, ist so etwas nicht. Gut möglich also, dass vor allem die jüngeren Menschen eine Flut an Ahr, Erft und Swist, wie sie im Juli 2021 stattfand, in ihrem Leben noch ein zweites Mal überstehen müssen. Ein Umdenken in der Flächennutzung (weniger Versiegelung von Flächen, mehr natürlich gewachsene Waldflächen) sowie hochwasserangepasstes Bauen sind hierbei sicherlich von zentraler Bedeutung; nicht nur in Deutschland, sondern an nahezu allen Mittel- und Hochgebirgsflüssen rund um den Erdball. Speziell in diesem Fall waren die Niederschlagsmengen jedoch so groß, dass das Wasser auch ohne versiegelte Flächen direkt abgeflossen wäre.
Erkenntnisse für K.A.R.L.
Enge Täler mit steilen Hängen können digitalen Höhenmodellen Schwierigkeiten bereiten. Da in K.A.R.L. das Höhenmodell ein wichtiger Analysebestandteil ist, kann dies zu Ungenauigkeiten bei der Berechnung von Überschwemmungsrisiken in stark strukturiertem Gelände führen. Digitale Höhenmodelle beschreiben die Oberfläche meist in Form eines regelmäßig angeordneten Punkterasters, wobei die einzelnen Punkte die Höhen-werte darstellen. Der limitierende Faktor ist hierbei die Auflösung des Höhenmodells. Markante Geländeelemente können bei geringer Auflösung nicht detailgetreu abgebildet werden. Unsere Aufgabe ist es, unser Analysesysteme auch für solche speziellen Lagen fit zu machen. Derzeit arbeiten wir mit Hochdruck daran, K.A.R.L. auf diesem Gebiet weiter zu verbessern, um auch für komplexe Geländesituationen wie das Ahrtal noch zuverlässigere Risikoanalysen anbieten zu können. Mehr Informationen zu diesem Thema wird es in einem K.A.R.L.-Express geben, der in den kommenden Wochen erscheint.
Darüber hinaus sollte die Erkenntnis aus diesem Kurzbericht, dass Extremereignisse häufiger auftreten als aufgrund der „normalen“ Verteilungskurve von Beobachtungswerten zu erwarten, auch in K.A.R.L. bei der Abschätzung der WKPs und Intensitäten von Extremereignissen berücksichtigt werden. Aber auch für die konkrete Umsetzung dieser Erkenntnis in K.A.R.L. sind eine Reihe von weiteren Überlegungen erforderlich.
Literatur & Quellen
T. Junghänel, P. Bissolli, J. Daßler, R. Fleckenstein, F. Imbery, W. Janssen, F. Kaspar, K. Lengfeld, T. Leppelt, M. Rauthe, A. Rauthe-Schöch, M. Rocek, E. Walawender u. E. Weigl (2021): Hydro-klimatologische Einordnung der Stark- und Dauerniederschläge in Teilen Deutschlands im Zusammenhang mit dem Tiefdruckgebiet „Bernd“ vom 12. bis 19. Juli 2021, Deutscher Wetterdienst 2021
Schäfer, B. Mühr, J. Daniell, U. Ehret, F. Ehmele, K. Küpfer, J. Brand, C. Wisotzky, J. Skapski, L. Rentz, S. u. Mohr, M. Kunz (2021): Hochwasser Mitteleuropa, Juli 2021 (Deutschland) – Bericht Nr. 1, Nordrhein-Westfalen & Rheinland-Pfalz, CEDIM Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology 2021
T. Roggenkamp u. J. Herget (2015): Historische Hochwasser der Ahr – Die Rekonstruktion von Scheitelabflüssen ausgewählter Ahr-Hochwasser, Heimatjahrbuch Kreis Ahrweiler, hjb2015.47.pdf (kreis-ahrweiler.de)
Niederschlagsdaten: Daten extrahiert vom DWD Climate Data Center (CDC): Tägliche Stationsmessungen Niederschlagshöhe in mm, Version 2.1-v2107, 202107291811 (https://cdc.dwd.de/portal/202107291811/mapview)
Pegeldaten: Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz, Messdaten Pegel Altenahr (http://213.139.159.46/prj-wwvauskunft/projects/messstellen/wasserstand/register3.jsp?intern=false&msn=2718040300&pegelname=Altenahr++&gewaesser=Ahr&dfue=1)